22 Sep OTTO MUEHL: APOKALYPSE / KEINEN KEKS HEUTE (1998)
Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie, wo diverse „Verordnungen“ tiefgreifend in unsere Persönlichkeitsrechte eingreifen, wirkt Freiheit nicht nur als abstrakter Begriff, als ein regulatives Ideal wenn man so möchte, sondern sehr konkret, beinahe materiell, wie eine Art feiner Äther, den man gerne sorglos (Mund-Nasen-Schutzmasken-los!) einatmen möchte. Gleichzeitig können in diesem Lichte die „Kultur-Freiheitskämpfe“ des Wiener Aktionismus gemeinsam mit deren Exzessen, umso näher, begreiflicher als je zuvor erscheinen. In diesem Kontext nimmt Otto Muehls „APOKALYPSE / KEINEN KEKS HEUTE“ als juristisches Paradebeispiel für den Sieg von Kunst- bzw. Meinungsfreiheit in Europa einen ganz besonderen Stellenwert ein!
Die Collage aus dem Jahre 1998, die aus neun 150 X 119,5 cm großen Leinwänden besteht und als gesellschafts- und politikkritische Allegorie des Zusammenspiels von Gesellschaft, Sexualität und Religion gedeutet werden kann, ist zur Zeit nach Vereinbarung im STADTRAUM in Wien zu besichtigen.
Die mit Acrylfarbe karrikaturistisch gemalten Figuren, Silhouetten von nackten Wesen mit erigierten und ejakulierenden Penissen oder mit weiblichen Geschlechtsteilen sowie üppigen Brüsten zeugen von Otto Muehls handwerklich-malerischem Können. Nicht zuletzt erinnert die Komposition an gewisse Ikonografien der altmeisterlichen Apokalypsedarstellungen, wo Engel gegen Dämonen kämpfen, Heilige in den Himmel aufsteigen, Sünder in der Hölle schmoren usw.. Nur die Köpfe dieser Figuren hat der Künstler nicht gezeichnet, sondern an deren Stelle Fotos der Gesichter von sich selbst und von bekannten Persönlichkeiten seiner Zeit wie etwa Mutter Teresa, Bischof Kurt Krenn, Kardinal Hans Hermann Groer, Peter Turrini, den damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann, Jörg Haider und anderen österreichische Politiker geklebt, die sich u.a. in erotisierenden Gruppen gegenseitig amüsieren.
Das Werk wurde erstmalig in der Sezession 1998 ausgestellt. Es sorgte eigentlich für keine besondere Aufregung bis es am letzten Ausstellungstag vom damals bekannten „Pornojäger“ Martin Humer durch einen Farbbeutelwurf beschädigt wurde und dadurch der Presse und Öffentlichkeit erst recht auffiel. Der FPÖ-Spitzenpolitiker Walter Meischberger erkannte sein Gesicht im Gemälde wieder, fühlte sich in seiner Privatsphäre verletzt und startete gemäß § 78 des Urheberrechtsgesetz eine Unterlassungsklage. Das Wiener Oberlandesgericht gab dem Politiker in zweiter Instanz Recht und verhängte ein unbefristetes Ausstellungsverbot, weil es in der Bildcollage eine Herabwürdigung seines öffentlichen Ansehens sah. Die Vereinigung bildender Künstler*innen Wiener Secession kämpfte gegen das Urteil und somit gegen Österreich an. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschied 2007, dass das Ausstellungsverbot „unzulässig im Sinne der demokratischen Meinungsfreiheit“ nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention sei und hob das Ausstellungsverbot wieder auf. Es handelt sich dabei um den aller ersten Fall, in dem vom Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Kunstfreiheit festgestellt wurde!
(April 2020)
Abbildungen:
© Archives Otto Muehl & Estate Otto Muehl
Quellen:
Klocker, Hubert (2007): Viennese Waltzes: Viennese Actionism and Law. In: The Trials of Art. Redaktion Daniel McClean, Ridinghouse-Verlag, London, S. 273-286
https://www.derstandard.at/story/2743490/ausstellungsverbot-fuer-muehl-bild-apokalypse-unzulaessig
https://www.mak.at/programm/ausstellungen/apokalypse__keinen_keks_heute
https://www.unesco.at/fileadmin/Redaktion/Kultur/Vielfalt/Dokumente_Einzelne_Themenschwerpunkte/Kunstfreiheit/Kunstfreiheit_HannesTretter.pdf